Nachbar mit Herz - ein soziales Hilfenetzwerk auf Ortsgemeindeebene
Armut und Gerechtigkeit
14,6 % der Bevölkerung in Deutschland waren 2009 armutsgefährdet. 6 Millionen Menschen beziehen Hartz IV, über eine Million Menschen Sozialhilfe und fast 300.000 Kinder leben in Familien, die wegen ihres Niedrigeinkommens einen Kinderzuschlag erhalten. 70 % der Hatz IV-Bezieher sind aktuell bereits ein Jahr oder länger auf diese Hilfe angewiesen.
(Angaben nach Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsförderung)
Armut gibt es mittlererweile nicht nur in städtischen Ballungszentren, sondern auch in ländlichen Räumen. Der höhere Grad sozialer Kontrolle im dörflichen Bereich lässt sie hier allerdings verschämter und versteckter auftreten. Man tut auf dem Dorf sehr viel, um die Not zu verbergen und es fällt den Menschen schwerer, Hilfe anzunehmen. (vgl. Studie „Armut in ländlichen Räumen“, Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, 2010)
Das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit hat sich in der neueren Diskussion von einfacher Verteilungsgerechtigkeit hin zur Chancengerechtigkeit entwickelt, die die eigene Leistung der Personen "fordern und fördern" will. Neuere Armutsstatistiken belegen aber einen Mangel an konkreten beruflichen Perspektiven, Armut zu überwinden. Eine gerechte soziale Ordnung hat allen Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.
Der Initiative „Nachbarn mit Herz“ ist schnell deutlich geworden, dass rein materielle Hilfe und nachbarschaftliche wie professionelle soziale Unterstützung nicht ausreichen. Es müssen eine Unterstützung im Bildungsbereich und konkrete berufliche Perspektiven hinzukommen.
Darum liegt der Arbeit der Initiative der Begriff der "Teilhabegerechtigkeit" zugrunde, wie er in der EKD-Denkschrift "Gerechte Teilhabe" entwickelt wird, wonach niemand von den "grundlegenden Möglichkeiten zum Leben, weder materiell noch im Blick auf die Chancen einer eigenständigen Lebensführung" ausgeschlossen werden darf. (Gerechte Teilhabe, Ziffer 60). Dazu gehört zuallererst Teilhabe an Bildung und Eröffnung von beruflichen Perspektiven. Konkret hilfreich ist darum die Zusammenarbeit der Initiative mit Kindergarten, Schule und Offener Ganztagsschule. In Planung ist darum auch ein kostenloses Schularbeitenhilfe-Angebot.
Armut im ländlichen Raum
Armut zeigt sich auf unseren Dörfern am deutlichsten am Ergehen von Kindern in armen Familien. Kinder können z.B. aus finanziellen Gründen nicht an Fahrten und kostenpflichtigen Veranstaltungen von Kindergarten und Schule, oder an Nachhilfeangeboten teilnehmen.
Familien können den Kindern keine Einschulungsausrüstung oder Weihnachtsgeschenke ermöglichen. Familien kommen am Ende des Monats in Geldnot, damit ist hin und wieder eine ausreichende Versorgung mit Nahrung und Kleidung gefährdet. Alleinerziehende brauchen Unterstützung bei der Kindererziehung und – betreuung. Überschuldung, Zerrüttung von Familien, häusliche Gewalt können Folgeerscheinungen materieller Not sein.
Erkenntnisse und Motivation
Armut wirkt ausgrenzend, gerade im dörflichen Bereich. Dem gilt es mit gemeinschaftstiftenden Aktionen entgegenzutreten, die nichts kosten.
Jede und jeder kann in Not geraten, z.B. durch familiäre Verwerfungen oder Verlust des Arbeitsplatzes. Andererseits kann jede und jeder auf eigene Weise anderen hilfreich sein. Wichtig ist es, aufeinander zu achten. Wichtig ist es andererseits, Verschwiegenheit zu achten. Verschiedene dörfliche Institutionen und Vereine überwinden ihre Partikularinteressen und merken, dass sie gebraucht werden, lernen zusammenzuarbeiten und bekommen das Wohl aller BewohnerInnen im Dorf in den Blick.
Der Initiativkreis „Nachbarn mit Herz“
Der Initiativkreis “Nachbarn mit Herz” hat sich auf Anregung von Herrn Johannes Koch, Niendorf, gebildet, um Maßnahmen gegen Kinderarmut und Not in Familien unserer nächsten Umgebung zu ergreifen.
Der Unterstützerkreis hat im August 2007 seine Arbeit aufgenommen und besteht aus einer Reihe von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen unterschiedlicher Profession.
Die Bildung eines Netzwerkes
Armutsbekämpfung ist eine soziale, politische und gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Um Armutsfolgen in Familien und besonders bei Kindern effektiv zu lindern, braucht es ein lokales Netzwerk von Akteuren. Es besteht aus engagierten Nachbarn, professionellen Akteuren aus den Bereichen Bildung und Sozialarbeit bis zu gesellschaftlichen, kirchlichen und kommunalen Stellen.
Die Initiative bildet ein Hilfe-Netzwerk von Ev. Kirchengemeinde, DRK, Landfrauenverein, Schule, Kindergärten, Sportverein, Kommunen, ehrenamtlichen Fachleuten aus Sozialarbeit und Pädagogik, Jugendamt u.a. Sie ist aufmerksam für soziale Notlagen in der dörflichen Nachbarschaft, hilft beim Knüpfen sozialer Kontakte, erschließt Hilfs- und Betreuungsangebote in belastenden Situationen und weist in der Öffentlichkeit auf die Not von Kindern und Familien hin.
Die Initiative wirkt kommunal- und kreispolitisch im Sinne armer Kinder und Familien,
unterstützt Kinder und ihre Familien direkt, konkret und unbürokratisch durch persönliches Engagement, Betreuung und Beratung im Sinne einer verantwortungsbewussten Nachbarschaftshilfe, lädt zum Mitmachen ein durch Übernahme von Patenschaften, Mitarbeit im Unterstützerkreis oder Spenden.Sie sorgt für Supervision und Beratung des Unterstützerkreises und bildet für Notfälle einen Hilfs-Fonds zur finanziellen Unterstützung von Familien.
Der Unterstützerkreis
Der Unterstützerkreis gewährt Familien praktische Hilfen z.B. bei Kinderbetreuung, Ämtergängen und Haushaltsführung. Er arbeitet absolut vertraulich. Jede/r TeilnehmerIn der Unterstützergruppe unterschreibt eine Erklärung zur Verschwiegenheit und zum Datenschutz. Durch Fallbesprechungen und Informationen zu Themen der Hilfeleistung, wie z.B. Nähe und Distanz, Gewalt in der Familie, Möglichkeiten finanzieller Unterstützung u.a., erhalten die UnterstützerInnen ihrerseits professionelle Unterstützung. Bei einem Hilfebedarf, der die Möglichkeiten der Gruppe übersteigt, wird professionelle Hilfe von außen, wie z.B. vom Jugendamt, hinzugezogen. Es werden in jedem Fall die Möglichkeiten des Zusammenwirkens mit anderen Akteuren, z.B. mit Schule oder Kindergarten o.ä. geprüft.
Berkenthin, 9. Januar 2012
Wolfgang Runge, Pastor